Tag 61: Von kurz hinter Reni (Flusskilometer 122) bis Tulcea – 50,0 km – 6:45 Stunden – 12.749 Paddelschläge – Gesamtkilometerstand: 2.382 km
18.09.2017. Knapp zwei Monate ist es nun her, das Pascal in München an der Max-Josef-Brücke aufbrach. Rund 2.400 Kilometer ist er seitdem gepaddelt. Und für das große Finale wartet die Donau nochmal mit einem landschaftlichen Knaller auf: dem Mündungsdelta ins Schwarze Meer. Das Königreich der Pelikane. Ein einzigartiger Lebensraum für Flora und Fauna. Das größte zusammenhängende Schilfrohrgebiet der Welt. Biosphären-Reservat der UNESCO. Eine eigene Welt. „Wer ins Delta fährt, fährt ins Vergessen“ heißt es nach einem alten Spruch der Fischer. In vielen Reiseberichten liest man aber genau vom Gegenteil. Es lasse einen nicht mehr los, diese unvergleichliche Wasserwildnis. Wird bei Pascal ob der langen Reise und der langen Einheit mit dem Wasser und der Natur womöglich Wehmut aufkommen? Die nächsten Tage werden es zeigen. Sicher gilt nur eins: diese Reise, sie hat Pascal verändert.
Nochmal ein kleiner Blick zurück. Die letzten 300 Kilometer der Donau, sie sind nochmal ein sehr besonderer Verlauf. Die Donau fließt lange Zeit geradeaus Richtung Osten und kommt dem Schwarzen Meer bereits 50 Kilometer nahe. Sie könnte weiter nach Konstanza fließen, dieser altehrwürdigen Perle am Schwarzen Meer. Doch plötzlich zieht es die Donau nochmal für rund 100 Kilometer in nördliche Richtung. Es liegt an einem Höhenzug, gegen den sie nicht ankommt. Erst nach dem großen industriellen Speckgürtel von Galati zieht es sie dann wieder in östliche Richtung. Kleinere Hügel, aber auch die neuen Wassermengen der Flüsse Sereth und Pruth drücken die Donau wieder in diese Richtung.
Auf dem Weg dahin durchquerte Pascal die Region Dobrudscha, ein vergessener Schatz, der noch heute ein Zankapfel zwischen Rumänien und Bulgarien ist und nationalistische Gemüter auf beiden Seiten hochkochen lässt. Viele Völker lebten in der Region, beherrschten sie. Der nördliche Teil wurde nach den Russisch-Türkischen Kriegen Rumänien zugesprochen, der südliche Part Bulgarien. Nach dem zweiten Balkankrieg wurde der südliche Teil 1913 von Rumänien annektiert, um erst 1940 im Vertrag von Craiova wieder Bulgarien zugesprochen zu werden. Erwähnenswert sind auch die Dobrudscha-Deutschen, die im 19. Jahrhundert in der Region ansiedelten und während der Weltkriege vertrieben wurden. Wirtschaftlich gilt die Dobrudscha europaweit als eine der strukturschwächsten Regionen.
Für Pascal stand nochmal eine letzte Nacht im Zelt an. Und so richtig mag er sich an das Schlafen in der freien Wildnis nicht gewöhnen. Zu sehr lauscht er noch auf die vielen Geräusche um ihn herum. Mit Licht konnte er die rot leuchtenden Augen einer Wildkatze erkennen. Gegen 23 Uhr leuchtete ihn auch noch ein Suchscheinwerfer an. Es war die rumänische Polizei, die ihm aber nur eine gute Nacht wünschte – auf Deutsch wohlgemerkt. Entsprechend früh stand er am Morgen auf, und wurde dafür mit einem wunderschönen Sonnenaufgang über der Donau belohnt. Dazu sah er einige Fischerboote in ihren dunklen Konturen auf der rotorange schimmernden Donau, es sah aus wie auf einem Gemälde. Später am Morgen rauschte aber auch ein großer Tanker an Pascal vorbei, dessen große Wellen Unmengen an Müll am Ufer ablagerten. Die Wirklichkeit holte Pascal schnell wieder ein.
Pascal übermachte kurz vor dem Aufbruch sein Zelt ein paar Fischern, die sich darüber sehr freuten. Es gab Pascal ein gutes Gefühl, denn es waren vor allem Fischer, die ihn auf seiner langen Reise immer wieder begleiteten, und ihm auch das Gefühl gaben, nicht komplett allein zu sein. Es war für Pascal ein Zeichen der Dankbarkeit, auch wenn er in diesem Moment nur die gerade anwesenden Fischer beglücken konnte. 8:20 Uhr machte Pascal sich auf den Weg nach Tulcea. Er startete früh, um dem möglicherweise am Nachmittag aufkommenden Gegenwind aus dem Weg zu gehen.
Bei dem kleinen Ort Isaccea kann Pascal es dann so langsam spüren, das Donaudelta beginnt, dieses dreieckige Labyrinth aus kleinen Flüssen, Wasserläufen, Sümpfen, Sandbänken, Schilf, Seen und Wäldern. Wenige Kilometer von den Ufern entfernt kommen zwei sehr Seen auf. Sie bilden den Beginn der Steppen des historischen Bessarabiens, das heute in Moldawien und die Ukraine aufgeteilt ist. Pascal musste an Der alte Mann und das Meer denken, diesen Klassiker der Weltliteratur von Hemingway. Vor allem wegen der unendlich wirkenden Breite der Donau, aber auch diesem Kampf, den der Alte gegen die Kräfte der Natur führt. Auch Pascal musste auf seiner Reise kämpfen, gegen den Wind, gegen die Wellen, gegen die Hitze, und sicherlich das eine oder andere Mal auch gegen die Einsamkeit. Oder ist es vielleicht sein leicht grau melierter Vollbart, der ihn an den Alten Mann denken lässt. Es bleibt Pascals Geheimnis.
Wenig später, Pascal passierte gerade die 100 Kilometermarke, traf er plötzlich auf zwei zusammengebaute Kanus, darauf eine Person sitzend. Pascal näherte sich und konnte drei Jungs erkennen, zwei davon noch schlafend. Sie entpuppten sich als Deutsche: Sebastian, Brilan und Max. Ein Gespräch unter Donauexperten begann, dazu wurde Tee getrunken und ein paar Fotos geschossen. Die Jungs sind Anfang Juli in Passau gestartet und lassen sich auf der Donau einfach treiben. Was sich manchmal so alles per Zufall ergibt. Nachdem Pascal die Jungs schon deutlich hinter sich gelassen hatte, stellte er fest, dass er seine Birkenstock-Schuhe bei den Jungs vergessen hatte. Schwamm drüber. In Tulcea konnte er sich später neue Schuhe besorgen.
Nur wenige Kilometer vor Tulcea hieß es dann für Pascal eine Entscheidung zu treffen. Denn hier spaltet sich die Donau in zwei große Fahrrinnen. Die nördliche Rinne zweigt Richtung Norden, nach Ismajil ab. Sie bildet in vielen Kehren den natürlichen Grenzverlauf zwischen der Ukraine und Rumänien und spaltet sich in ihrem weiteren Verlauf mehrere Male. Die südliche Rinne führt über Tulcea direkt immer geradeaus zum Turm von Sulina, und genau dieser Turm hängt als Poster in Pascals Büro – sein visuelles Ziel, dass er seit Monaten jeden Tag vor Augen hatte. Und natürlich nahm Pascal, seinem Ziel folgend, den südlichen Arm.
Kurz nach 15 Uhr erreichte Pascal das Tagesziel, das sich schon auf den letzten Kilometern vermehrt mit Werften und Hafenanlagen zeigte. Zwischen einigen Booten landete Pascal problemlos an und begab sich zu seinem Hotel. Der Blick aus dem fünften Stock gewährte ihm erste Eindrücke auf die Stadt, die zunächst vor allem mit vielen Plattenbauten aufwartet. Tulcea ist der letzte größere Ort vor dem Schwarzen Meer und als „Tor zum Mündungsdelta“ bekannt. Bereits der große griechische Geschichtsschreiber Herodot erwähnte es. Basis der römischen Nordost-Flotte, später unter der Herrschaft der Byzantiner, Bulgaren, Osmanen, wieder Bulgaren und schließlich seit 1940 der Rumänen. Ein ständiges Wechselbad mit einer Konstante: stets war Tulcea ein wichtiger Hafenstandort. Werften, Aluminium und Textilien sind heute noch die wichtigsten Industriezweige der Stadt.
Am Abend heißt es für Pascal ausruhen für die letzten beiden Etappen und das Filmteam um Nils und Matse in Empfang zu nehmen, die beim großen Finale natürlich mit der Kamera dabei sein wollen. Sie landeten am Nachmittag in Bukarest und begeben sich zur aktuellen Stunde auf den umständlichen Weg ins Delta.
Das Mündungsdelta übrigens, es wurde von der Donau selber geschaffen. Mit ihrem Wasser transportiert die Donau jede Sekunde Unmengen an Sedimenten, die sich im Mündungsdelta über die Jahrtausende ablagerten. Im Vergleich zu Beschreibungen aus der Antike vor 2000 Jahren scheinen sich die Mündungen rund 60 Kilometer in Richtung Osten verlagert zu haben. Das Delta bietet über 4.000 Tier- und 1.000 Pflanzenarten Lebensraum. Seit 1991 ist es Teil des Weltnaturerbes der UNESCO. Dabei hätte es auch ganz anders kommen können. Ceauşescu und seine Clique wollten das Delta wirtschaftlich erschließen, Industrieanlagen sollten hochgezogen, für Ackerland Wälder abgeholzt und Sümpfe trockengelegt werden. Teilweise wurde mit dem Trockenlegungen auch schon begonnen, ehe die Revolution von 1989 der damaligen rumänischen Regierung einen Strich durch die Rechnung machte. Gott sei Dank muss man sagen, es wäre die vollständige Vernichtung des Deltas gewesen. Aber auch heute ist nicht alles perfekt, ganz im Gegenteil, sämtlicher Müll, den die Donau über die 2850 Kilometer seit Donaueschingen aufnimmt, landet irgendwann hier im Delta, und wird letztendlich ins Schwarze Meer gespült. Traurig, aber leider Realität.
Morgen geht es auf die vorletzte Etappe ins kleine Crisan, mitten im Donaudelta. TF